Es ist kurz nach 04:00 Nachts als mein Mobiltelefon klingelt. Die Nummer verrät, dass es Riccardo ist. Riccardo ist Italiener, genauer gesagt Römer, und derzeit mein Gast. Er besucht die Summer University (SU) in Aachen. Die Summer University wird von Aachener Studierenden organisiert. Sie gehören zum Europäischen Studierendenforum AEGEE. In fast jeder Universitätsstadt Europas, nicht nur der EU,  organisieren die AEGEEans 14tägige Bildungsreisen für junge Leute. Die Gäste lernen zum Beispiel mit angehenden Lehrern die Landesprache.  Die Organisation ist eine Mischung aus hoch professionellem Seminarbetrieb und improvisiertem Chaos. Viel Lernstoff, Workshops, Aufgaben, Teambuilding – dann Flunkyball, Motto-Partys und interkultureller Austausch.

Der 34jährige Riccardo ist in Aachen zu Gast um Deutsch zu lernen. Neben ihm sind noch 20 weitere Teilnehmer aus fast allen europäischen Ländern dabei. So auch Niel aus Glasgow. Er ist ebenfalls mein Gast. Von Niel kann man perfekt lernen auf Schottisch zu fluchen. Am Tag der Anreise packte er seine Sachen aus und mein Blick fiel auf eine gefaltete Fahne in seinem Koffer.

„Hey, hast Du deine Nationalfahne mitgebracht?“

„Ja! Hier!“

Doch was packt er aus? Die Europafahne (!)- und wettert direkt über den Brexit. Das Eis war gebrochen.

Als es also um kurz nach 04:00 Uhr klingelte, war Riccardo in einer verzweifelten Situation, denn sie hatten sich verlaufen. Sie fanden nicht mehr zur Bismarckstraße. Niel war im Hintergrund zu hören. Auf feinstem Schottisch fluchte er über den „akward way“ und den „f***ck**g one hour walk“. Damit nicht genug: Niel hatte allem Anschein nach sein Mobiltelefon verloren. Es war weg und er ziemlich aufgebracht.

Zusammen mit den anderen Teilnehmern des Kurses waren Riccardo und Niel in einer Karaoke-Bar in der Pontststraße “versackt“. Beide hatten nicht nur am Mikrofon ihr Können unter Beweis gestellt, sondern auch „am Glas“ die Taktung hoch gehalten.

„Friedrich! Niel ist‘e betrunken! Wir haben uns‘e verlaufen‘e! Und er hat sein iPhone verloren‘e! Ich komme nicht klar‘e!“

Der sonst ruhige und besonnene Riccardo war hilflos und wusste nicht was zu tun war. Mein erster Groll über die nächtliche Ruhestörung war verflogen. Wie kann man einem liebenswerten und sehr respektvollen Italiener schon böse sein, wenn er mit einem betrunkenen Schotten, der auch noch sein Mobiltelefon verloren hat, durch die Stadt irrt? Gar nicht! Und noch weniger, als er tapfer  und konsequent das Gespräch auf Deutsch führte.

„Ricardo, ist das Niel der da flucht?“

„Ja, er ist‘e sehr’e aufgebracht‘e.“

Zeit Riccardo Ruhe zu verschaffen. Ricardo hatte schon nach einem Tag den Aachener ÖPNV besser verstanden als ich. Zu Fuß war er schon mehrfach unterwegs gewesen. Er brauchte hoffentlich nur einen Moment sich zu sammeln. Mein Plan: Niel beruhigen, damit Riccardo sich konzentrieren konnte.

„Gib mir Niel!“

„Hi Friedrich! Es ist die Hell! Isch habe mein Mobile verloren und Riccardo schickt misch dursch die Stadt. That’s crazy man!“

Ja, frag mich mal, dachte ich. Doch während dieses Satzes konnte das erste Problem gelöst werden: Riccardo fand in seiner Tasche Niels iPhone. Die Lage entspannte sich hörbar. Die Stimmung entwickelte sich fast schon euphorisch. Betrunkene Typen. So sind wir. Und alles live am Telefon. Awesome!

Blieb die Frage: Wo sind die beiden und wie geht es nun nach Hause?

Ricardo und Niel waren plötzlich motiviert wie vor einem entscheidenden Länderspiel. „Wir schaffen das schon! Wir sind bald da!“

Es folgten drei weitere Telefonate in den nächsten zwanzig Minuten. Die Jungens brauchten Beistand. Irgendwann standen sie dann an der Ecke Wilhelmstraße und Lothringerstraße. Nicht mehr weit. Doch an der nächsten Kreuzung der nächste Anruf. Niel war der Weg wieder eingefallen. Er wartete nicht mehr auf Ricardo und war schnellen Schrittes die letzten Meter zur Bismarckstraße unterwegs. Riccardo brauchte nun einfach Beistand.

„Riccardo, welche Straßennamen stehen dort?“

„Schlossstraße und‘e Einbahnstraße!“

Nein, kein Witz. Ein Klassiker. Ich hätte beinahe nicht mehr sprechen können. Ich musste den aufkommenden Lachanfall unterdrücken. Riccardo war in Not. Betrunken, müde und alleine. Doch ich konnte ihn lotsen. Als er den Frankenberger Park in der Ferne sah, wusste er zumindest dass es nicht mehr weit ist. Doch er machte sich Sorgen um seinen treuen Begleiter.

„NIEL‘E! FRIEDRICH IST‘E AM TELEFON! ER WEISS‘E WO WIR SIND‘E!!!“

In der Schlossstraße hatte man hoffentlich die Fenster zu, als Riccardo seinem Schottischen Zimmerkumpan nachrief. Doch der stand da schon vor meiner Tür und steckte den Schlüssel ins Schloss.

„Riccardo, Niel ist hier. Er kommt gerade zu Türe rein! Alles ist gut!“

„Ok‘e, ich komme!“

Wenige Augenblicke, völlig außer Atem, stand Riccardo dann auch in der Wohnung. Er war gerannt. Die Treppen regelrecht hochgesprintet. Untröstlich entschuldigte er sich bei Niel für die misslungene Navigation. Niel, wieder ganz der smarte Schotte, hatte Ricardo bereits verziehen. Das Bett in Sicht war alles nicht mehr schlimm. Und überhaupt: Hat man doch eine gute Geschichte von einer langen Nacht. So brauchte es noch ein paar Minuten Riccardos Entschuldigungsmarathon zu beenden und ihn ins Bett zu schicken. Niel träumte da bereits von einem Navigationssystem, dass immer funktioniert. Auch dann, wenn das Mobiltelefon weg ist.

Am nächsten Morgen Mittag waren die beiden wieder ein Herz und eine Seele. Wir mussten beim Mittagessen selber herzlich lachen. Gute und wahre Geschichten gehören zu einer Summer University. Diese Geschichte ist eine, die auch öffentlich ruhig gelesen werden kann. Daher haben wir sie aufgeschrieben, um sie festzuhalten.

Die Moral von der Geschichte? Nachts sollten einfach mehr Busse fahren 😉

Niel und Ricardo

Niel und Riccardo am Tag danach: Shit happens 😉

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1 Kommentar

Rupert Mohr · 13. Juli 2017 um 06:13

Echt nette Jungs 🙂

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